„Wo wir gut und wo wir weniger gut unterwegs sind“

Veröffentlicht am 15.11.2022 in Kreistagsfraktion

Jürgen Hestler am Rednerpult

Anmerkungen zum Kreishaushalt 2023 von Jürgen Hestler – Kreistagssitzung am 14.11.2022 in Waiblingen

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Damen und Herren der Verwaltung, werte Gäste,

einer seiner Lieblingssätze lautet: „Auch da sind wir gut unterwegs“. Und in der Tat: Er ist gut unterwegs. Man trifft ihn überall im Landkreis. Er gibt die Richtung vor, marschiert vorneweg und der Kreistag folgt. 

Vor ein paar Wochen hat er nun einen Vorschlag gemacht, wohin die Reise im nächsten Jahr gehen soll.

Seine Botschaft war eindeutig: Wir werden auch im nächsten Jahr gut unterwegs sein und trotz dunkler Wolken am Finanzhimmel am Ziel ‚Klimaneutralität bis 2035‘ festhalten, das GIK durchziehen, das Defizit der Kliniken reduzieren, neue Stellen schaffen, die Flüchtlinge trotz gesunkener ehrenamtlicher Betreuung unterbringen und den Pflegenotstand angehen. Und wenn das Wetter wirklich schlechter werden sollte, werden wir beim Bund zusätzliche Regenschirme anfordern.

Als Schwabe kann ich da nur sagen: Ma sodd net sprenga wella, eh mr laufa ka. Will sagen, bevor wir zum Gipfelsturm im Jahre 2035 abheben, sollten wir erst einmal ein paar Laufübungen machen und schauen, ob unser Wanderziel realistisch ist, ob unsere Ausrüstung passt, ob unsere Regenkleidung wasserdicht ist, ob die Wanderwege noch begehbar sind und wer die Zeche bei der Einkehr zahlt.

Denn darum geht es heute. Man nennt dies Haushaltsdebatte. 

In allen demokratischen Parlamenten dieser Welt die Stunde der Abgeordneten und Mandatsträger. Die Gelegenheit, die Politik der Verwaltung zu hinterfragen, sie zu kontrollieren und Alternativen aufzuzeigen.

Für einen ehrenamtlich tätigen Kreisrat eine schier unlösbare Aufgabe. Ohne einen Verwaltungsapparat, ohne Aufsichtsratsposten, ohne ein Bürgermeisteramt kann man das Herrschaftswissen der Verwaltung nur schwerlich anknabbern. Mit gesundem Menschenverstand alleine, kommt man nicht weit.

Mindestens 80% der Kreisgelder sind festgezurrt, Kernaufgaben des Kreises sind ausgelagert und in die Hände der Töchter gelegt.

Wichtige Entscheidungen fallen in einem Bermudadreieck zwischen Bürgermeisterversammlung, Beteiligungsrichtlinie und Gutachteritis.

Die Ergebnisse bekommen wir dann in Form von wohl formulierten Eckpunktepapieren und aufwändigen Power-Point-Präsentationen irgendwelcher Gutachterfirmen, die uns dann für teures Geld erklären, warum sie mit ihrem früheren Gutachten daneben lagen.

Vielleicht auch ein Grund dafür, dass kontroverse Debatten im Kreistag kaum mehr stattfinden. Die Sitzungen des Kreistages sind in Rituale erstarrt.

Nicht mal mehr über die Höhe der Kreisumlage streiten wir. Das war früher mal anders. Da haben wir heftig gerungen, für was wir die Steuergelder ausgeben sollen. Heute ist alles in einen Konsensschleier eingehüllt.

Winston B. Churchill hat mal gesagt: Sei nicht einfach gut, sei gut für etwas! Ich frage mich schon, für was wir noch gut sind, wozu man uns noch braucht. Bei einer Katastrophenübung zuzuschauen oder die neuen Sitzmöbel für den Sitzungssaal zu bemustern, ist mir zu wenig.

Wir haben uns deshalb in der Fraktion zusammengesetzt und überlegt, wo wir im Rems-Murr-Kreis gut unterwegs sind, wo weniger gut und wo über alternative Wege nachgedacht werden muss. Wir haben die Quintessenz unseres Nachdenkens in insgesamt zwölf Anträge gefasst.

Sehr gut unterwegs sind wir bei unserer Tour zur Modellregion Wasserstofftechnologie. Es ist ein Premiumwanderweg. Wir haben da eine Vorbildrolle. Und die verpflichtet. 

Es tut sich was bei der Entwicklung von emissionsfreien Motoren. Die Firma Deutz hat einen Antrieb für Nutzfahrzeuge entwickelt, der grünen Wasserstoff direkt ohne Brennstoffzelle verbrennt. Er ist 2024 serienreif. Die Firma Stihl kann ihre Arbeitsgeräte schon mit einem Bio-Kraftstoff „MotoMix Eco“ betreiben und das Karlsruher Institut für Technologie arbeitet in einer Forschungsinitiative an der Entwicklung von Re-Fuels. 

Wir sollten bei der Markteinführung helfen und bei der Ersatzbeschaffung von Fahrzeugen und Arbeitsgeräten nicht nur auf den Preis schauen, sondern technologieoffen sein.

Im Sommer 2022 haben die Verkehrsbetriebe Elbe-Weser bundesweit die ersten Wasserstoffzüge in Betrieb genommen. 

Wir sollten uns berichten lassen, welche technischen und betriebswirtschaftlichen Erfahrungen man dort mit dieser Entscheidung gemacht hat und erst dann entscheiden, ob - entgegen der Empfehlung des Gutachters - eine ähnliche Lösung für den „Wiesel“ angedacht werden kann.

Bei der herrschenden Akkumanie wird es schwer sein, Mittel für weitere Wasserstofftankstellen frei zu machen. Wir sollten deshalb auch weiterhin auf die finanzielle Förderung von öffentlichen 
E-Ladestationen verzichten und freiwerdende Gelder in den Ausbau von Wasserstofftankstellen umleiten. Den Ausbau des E-Ladenetzes überlassen wir den Stromkonzernen. Dann haben die endlich eine sinnvolle Verwendung für ihre Übergewinne.

Nicht so gut unterwegs sind wir auf der Krankenhausroute. 

Fachkräftemangel, Coronafolgen und teure Energie haben den Weg ziemlich ramponiert. Vor diesem Hintergrund ist es eine Illusion, das jährliche Defizit in absehbarer Zeit abzubauen. 

Die Rems-Murr-Kliniken sind Teil der Daseinsvorsorge. Es ist deshalb nicht mehr nachzuvollziehen, warum eine Klinik im Gegensatz zum VVS und zum Staatstheater schwarze Zahlen schreiben muss. Es wird nicht genügen, nur auf Finanzspritzen von Bund und Land zu setzen. 

Auch der Rems-Murr-Kreis muss was tun. Der Wettbewerber Marienhospital baut schon Betten ab, um damit das Personal zu entlasten und die Patientenzufriedenheit zu erhöhen. Das können wir nicht wollen. Das Klinikum Stuttgart zahlt eine Zulage an die Pflegekräfte. 

Wir müssen über unseren Weg reden. Und evtl. neue Prioritäten setzen. Offen und öffentlich. 

Nicht gut unterwegs sind wir auch bei dem Anspruch einer flächendeckenden Versorgung mit Hausärzten. Immer mehr Hausarztpraxen im Rems-Murr-Kreis finden keinen Nachfolger. Die hausärztliche Versorgung - vor allem im ländlichen Raum - ist gefährdet. Unser Nachbarkreis hat ähnliche Probleme und hat entsprechend reagiert. Studierende mit dem Ziel einer hausärztlichen Tätigkeit bekommen ab dem 5. Semester ein Stipendium, wenn sie sich verpflichten, später im Ostalbkreis zu praktizieren. Sie bekommen auch Unterstützung bei der Suche nach einer Wohnung, einem Bauplatz, einem Arbeitsplatz für Partner/in, oder nach KiTa-Plätzen. Der Rems-Murr-Kreis muss darauf reagieren, wenn er nicht eine Verschärfung des Problems riskieren will. Mit einem ähnlichen oder einem noch besseren Modell.

Die Prognosen sind dramatisch. Laut Hochrechnungen im erst unlängst verabschiedeten Kreispflegplan ist bis zum Jahre 2030 mit einem Anstieg des Bedarfs an vollstationären Pflegeplätzen um nahezu 50% zu rechnen, schreibt die StZ am 2.11.22. Man kann nicht sagen, dass wir bei der Pflege schon gut unterwegs sind. Ganz im Gegenteil. Der Weg ist eine einzige Baustelle. Wir steuern auf einen Abgrund zu.

Die Pflegeheime in Weinstadt und Großerlach haben schon dicht gemacht. Weissach und Schorndorf droht das gleiche Schicksal. Die Landesheimstättenverordnung läßt grüßen. 

Vielerorts fehlt das Personal, um das Angebot aufrecht zu erhalten. Wir brauchen dringend einen Kreispflegegipfel und eine tagesaktuelle Meldestelle für freie Pflegeplätze im Rems-Murr-Kreis. 

Noch völlig unausgegoren sind die Tourenvorschläge für den Verkehr mit Bus und Bahn im Rems-Murr-Kreis.

Wir sollen da ja im Rahmen des VVS‘ Versuchskaninchen spielen und „Modellregion für Mobilitätspass und Mobilitätsgarantie“ werden.

Was daraus nach Einführung des 49€-Tickets wird, steht in den Sternen. Auch ein mögliches 0-Euro-Ticket für die Kreisbediensteten nach dem Modell Nopper.

Mein Eindruck ist, dass dies wieder einmal ein Projekt von Städtern für Städte ist. Was für die Städte und Ballungsgebiete gut ist, taugt nicht automatisch für den ländlichen Raum. Es ist sicherlich dringend notwendig, den städtischen Raum vom überbordenden Verkehr zu entlasten. Je mehr Menschen dort auf den ÖPNV umsteigen, desto besser.

Im ländlichen Raum liegen die Dinge anders. Eine Mobilitätsgarantie von 5 bis 24 Uhr mit einem 30 min-Takt bis nach Vorderwestermurr oder gar Hinterwestermurr ist absolut realitätsfern und völlig unnötig. 

Es passt nicht mehr in die Zeit, wenn große Gelenkbusse warme Luft durch die Gegend fahren. 

Die stereotyp wiederholte Forderung nach Ausbau des ÖPNV muss zwischen Stadt und Land differenzieren: Taktverdichtung und Ausbau der Linien in den Städten, praktikable On-Demand-Angebote und mehr Park&Ride-Plätze – natürlich mit Solarbedachung - an den S-Bahn-Stationen am Rande der Städte. 

Ich lebe im ländlichen Raum am Rande des Naturparkes. Ich genieße das ruhige Leben da und kann es mir als Pensionär leisten, unter der Woche zu den Hörschbachwasserfällen zu wandern. Am Wochenende geht das nicht mehr. Da kommen die Stuttgarter. Meist mit dem Auto. Weniger mit dem Räuber- oder Waldbus. Da geht's dann zu wie am Stuttgarter Marienplatz. Den Kampf um Parkplätze eingeschlossen.

Der Schwäbische Wald ist zu einem Mekka für sanften Tourismus und inklusives Wandern geworden. Da sind wir dank der LEADER-Kulisse gut unterwegs. Im wörtlichen Sinne. Aber der Nordosten des Kreises -viele sprechen auch heute noch von der Ostzone – ist mehr als ein Naturpark und Naherholungsgebiet für gestresste Städter. Da leben Menschen, die zumutbar mit den Kindern die Oma besuchen wollen, die zumutbar zum Einkaufen, zur Arbeit oder zum Arzt kommen wollen, die nicht nur mit der Natur, sondern von der Natur leben wollen. Sie brauchen das Auto und sie brauchen Bauernhöfe, die auch was abwerfen. 

Die Menschen, die mit mir im Schwäbischen Wald „onderwegs“ sind, können mit den Hochglanzbroschüren des Ministeriums oder den Pinwänden der organisierten Bürgerdialoge nichts anfangen.

Ihre Wahrheiten sind viel einfacher:
Auch Biorinder pupsen! Und Schafe, die in Freiflächenfotovoltaikanlagen das Gras abweiden sollen, auch! Ohne Gras und Heu keine Kuh, ohne Kuh kein Kalb, ohne jährliches Kalb keine Milch, ohne Viecher keine Wiesen und ohne Wiesen und Viecher keine Gäste! Wen soll man dann noch melken?

Viehbetriebe sind Bauernhöfe und keine Gnadenhöfe! Und Metzger keine Tiermörder!

Vom Wohlwollen, Wohlfühlen und Wolle allein, kann man nicht überleben!

Hofläden sind auf dem Bauernhof. Und da gibt es in der Regel keine Bushaltestellen!

Tiere auf dem Bauernhof fordern einen sieben Tage die Woche. Den Begriff Work-life-balance kennt man dort nur vom Hörensagen.

Das steht in meinem Eckpunktepapier über ein Schwätzle auf einem landwirtschaftlichen Mischbetrieb.

Wir sollten einen ehrlichen Bürgerdialog organisieren und dort hingehen, wo die Menschen leben und arbeiten – ohne Metaplankärtchen, Keynotes und Powerpointfolien. 

Vielleicht relativiert sich dann eine lang eingeübte Rhetorik. Vielleicht rechnet dann mal jemand aus, wie hoch der Beitrag der übrig gebliebenen Rems-Murr-Rindviecher zum Klimawandel wirklich ist.

Das Verständnis für Land-Wirtschaft ist offensichtlich unter die ideologischen Räder gekommen. 
Da müssen wir besser unterwegs sein! 

Hohe Preise für Energie, Düngemittel und Maschinen, ein drohendes Spritzmittelverbot der EU in Naturschutzgebieten (=40% der Nutzfläche des Kreises), eine überbordende Bürokratie, ein der Viehwirtschaft feindlich gegenüberstehender Zeitgeist und die dumpingartigen Billigangebote der Supermarktketten bedrohen die Existenz der landwirtschaftlichen Betriebe im Rems-Murr-Kreis. 

Wir brauchen einen Perspektivplan für den ländlichen Raum. Als Backup für das Klimaschutzhandlungsprogramm.

Er sollte mit Hilfe einer Erreichbarkeitsstudie einen Daseinsvorsorgeplan für den ländlichen Rems-Murr-Kreis erstellen.

Er sollte aufzeigen, wie man die Belange von Natur-, Arten- Landschafts-, Tier- und Klimaschutz mit der Rentabilität der landwirtschaftlichen Betriebe in Einklang bringen will.

Er sollte ein Bekenntnis zur Viehwirtschaft mit regionaler Vermarktung beinhalten.

Er sollte aufzeigen, wie Wälder und auch Streuobstwiesen mittelfristig dem Klimawandel trotzen können.

Kurzum. Er sollte eine Strategie entwickeln, wie man das Höfesterben im Rems-Murr-Kreis aufhalten kann.

Denn sonst sind die jetzigen Jungbauern und Jungbäuerinnen wirklich die letzte Generation.
 
Liebe Kolleginnen und Kollegen,

auf der Landkreisversammlung Ende Oktober in Fellbach ist ein neues Wort am kommunalen Sprachhimmel aufgetaucht.  „Überlastungsfalle“ heißt es und umschreibt die Sorge, dass immer mehr Regeln, Standards und Aufgaben die kommunale Familie an den Rand ihrer finanziellen Kapazitäten bringen würden. 

Wer bestellt, der zahlt. Das ist sicher richtig. Aber das Konnexitätsprinzip ist halt keine Einbahnstraße. Auch wir sollten mit unserem Haushalt haushalten.

Ich will mal ein Beispiel nennen. Die StZ berichtet am 29. Oktober 22 unter der Überschrift „Kommunale Digitalisierung von unten“ über eine freiwillige Taskforce kommunaler Experten aus unterschiedlichen Kommunen in der Region, die sich in Fellbach getroffen haben, um nach Wegen zu suchen, wie man das Online-Zugangsgesetz vor Ort umsetzen kann. Warum soll das nicht auch auf die Landkreisebene übertragbar sein. 

Warum erschallt bei jeder neuen Aufgabe sofort der Ruf nach einer neuen Stelle? Brauchen wir wirklich einen eigenen Kreis-Klimamanager mit einem eigenen Fördermittelberater, oder einen eigenen Kreis-Bildungsmanager. Könnte das nicht z.B. eine Task-Force aus vorhandenen Kräften auch leisten? Dann könnten wir dem Herrn Parkinson ein Schnippchen schlagen.

Auch wenn es der Landrat nicht wahrhaben will. Wir werden künftig weniger Bürofläche brauchen. Homeoffice, Co-Working, Taskforces, Bürokratieabbau und Digitalisierung werden die Bürolandschaft verändern. Wir brauchen deshalb keine teure Umgestaltung der Pagode. 

Sehr geehrter Herr Landrat,

wir können es durchaus verkraften, wenn Sie einzelne Forderungen aus unserem Antragspacket nicht so gut für unterwegs finden. 

Aber wer weiß, vielleicht streiten wir dann mal wieder um die Sache.

Vieles wird auch im dichter werdenden Kompetenzdschungel untergehen.

Wir haben zwischen Waiblingen und Brüssel sieben Entscheidungs­ebenen. In diesem siebenstöckigen Bürokratiehochhaus muss jedes Stockwerk immer wieder seine Daseinsberechtigung beweisen und produziert deshalb permanent einen mehr oder weniger sinnvollen output. 

Wir Kommunalen im 1. und 2. Stock müssen das dann in der Regel ausbaden.

Wir sollten öfters den oberen Stockwerken mutig widersprechen, weniger Gutachter beschäftigen, mehr selber entscheiden und unseren Ermessenspielraum extensiv ausnutzen. 

Und einem Biowengerter am Ebersberg trotz FFH erlauben, die abgestorbenen Obstbäume durch klimaresistente PIWI-Trauben zu ersetzen, um ein Beispiel zu nennen.

Denn noch gibt es den Rems-Murr-Kreis. Noch können wir auf eigenen Wegen gut unterwegs sein.

Frei nach Goethe „Wie fruchtbar ist der kleinste Kreis, wenn man ihn zu pflegen weiß!“

Ich wünsche uns allen gute Beratungen und bedanke mich fürs Zuhören.

Homepage SPD Rems-Murr